Dienstag, 29. Oktober 2013

Kashgar

J: Die Einreise nach China ist dem Expeditionsteam um Annabelle, ja nun doch gelungen.
Das kleine tapfere Mädchen strotzte der dünnen Höhenluft und den endlosen holprigen Straßen bis sie schließlich ins Land der Mitte einreiste. Die neuen Straßen führen durch tiefe Täler, vorbei an spektakulären Felsformationen. Annabelle speist noch an diesem Abend an kindgerecht flachen Tischen in einem typisch uigurischen Restaurant. Das zweite Mal auf der Reise verlassen wir unser trautes Heim und kehren in ein chinesisches Hotel ein. Die Betten laden zum Springen ein, doch werden wir von brettharten Matratzen enttäuscht, was aber dem Spaß keinen Abbruch tut. Soviel Platz über und neben uns sind wir lange nicht mehr gewohnt und tollen wild jauchzend durchs Zimmer. Nach einem Blick über die wunderschöne Neon beleuchtete Skyline von Kashgar, mit dem gepunkteten „Sydney Opera“ Komplex, den im Uhrzeigersinn bunt beleuchteten Riesenrad und dem prächtig beleuchteten „Hafenbecken“.
Am nächsten Morgen machen wir einen 2 Stunden Zeitsprung und richten uns ab jetzt nach der Beijing Time, obwohl das vor Ort nicht üblich ist. Annabelle probiert mit Freude das reichhaltige chinesische Frühstück, mit scharfem Gemüse, Rührei, Reis und gedämpften „Brötchen“. Sie schlägt sich tapfer mit den Stäbchen, bekommt aber irgendwann von einer jungen Chinesin einen kleinen Keramiklöffel gebracht, die sie immer wieder in die Seite sticht und drückt. Ja kleine Annabelle, daran musst du dich nun gewöhnen. Auf der bisherigen Reise gab es zwar einige Übergriffe, aber meistens näherten sich die Leute eher zurückhaltend und ließen von ihr ab wenn sie anfing zu schreien. Das chinesische Volk sieht das allerdings anders, sie wird ständig durchs Gesicht gestreichelt, von hinten hochgerissen, es wird versucht sie wegzutragen. Das ist wohl die Bürde eines entzückenden Mädchens mit blauen Augen und goldenem Haar. Als Annabelle und ich alleine die Stadt erkunden, bleiben die Leute auf der Straße stehen oder verfolgen uns zum Teil, so dass wir in den Untergrund fliehen müssen. Die Aufdringlichkeit und Beharrlichkeit mit der uns Leute mit ihren durchdringenden Blicken kritisch bis freundlich beäugen ist neu. An sich sind wir noch nicht in China angekommen, wir sind mitten in Ostturkestan heutzutage Xinjiang genannt. Wie unsere Freunde, die bereits durch Usbekistan, Tajikistan, Kasachstan und Kirgistan gereist waren sagen- „hier ist es zentralasiatischer als im eigentlichen Zentralasien“. Es ist unter anderem streng muslimisch, so dass die Frauen zumindest ein Kopftuch tragen bis ganz verhüllt herumlaufen. Es geht so weit, dass viele Frauen mit einer braunen dick gestrickten Decke über dem Kopf rumlaufen, die keinerlei Lüftungsschlitze aufweisen. Kleine Mädchen haben meist eine Kurzhaarfrisur, eine Glatze mit ein paar Haaren an der Stirnseite oder sie tragen schon im zarten Alter von drei bis vier Jahren dünne Kopftücher. Meine Theorie ist es, dass die kleinen Mädchen extra Jungen-ähnliche Frisuren bekommen, damit sie noch keine Kopftücher tragen müssen. Der Witz kommt aber erst- kleine Babys hingegen bekommen Mützen mit Haarattrappen angezogen. Wo ist hier die Logik?
Das Leben läuft hier zum Teil wie vor Hunderten von Jahren ab: Die Menschen hämmern mit rudimentären Werkzeugen Bleche zu schönen Alltagsgegenständen. Andere schnitzen allerlei Fresken und Nützliches aus Holz, wieder andere kochen über Feuer oder handeln ihre Schafe mitten auf der Straßenkreuzung. Man muss sich letzteres so vorstellen, dass genauso viele grau bärtige Männer wie Schafe im Kreis stehen wild diskutieren und die vorbei gehenden den „Dickhinterschafen“ in den Po kneifen, um die Qualität des Tieres zu bestimmen. Drumherum drängen sich die Rollerfahrer, Fußgänger und überladenen Dreirad-Mini-LKWs. Es wird gehupt, geschimpft und geschrien. Das ständige wuselige Treiben bewegt sich unaufhörlich und die Menschen sind unglaublich geschäftig. Jeder feilscht, verkauft oder bewegt irgendetwas. Wir begeben uns in ein hellblau, weiß gemustertes Teehaus oberhalb des Basars und können das Treiben herrlich unbeobachtet von oben mitverfolgen. Annabelle genießt die Atmosphäre unter den Greisen und fängt aus Herzenslust an wie ein Auerhahn über den Basar zu schreien und da es in all dem Gewirr keinen zu stören scheint, lassen wir sie gewähren.
Pferde- und Eselwagen gibt es seit Kirgistan nur noch vereinzelt, auch die bekannten „one million bicycles in Beijing“ sieht man nur noch sehr vereinzelt. Diese wurden von zwei bis dreirädrigen elektrischen Rollern abgelöst. Die leise surrend, schwer beladen ganze Familien umherkutschieren. Dabei werden die Babys lässig unter den Arm geklemmt oder fahren in einem Plastikkindersitz, über der Straße wippend hinter dem Rest der 4-5 köpfigen Familie. Babys tragen außerdem ab dem Säuglingsalter keine Pampers, sondern haben einen großen Schlitz in der Hose, durch den sowohl Po als auch Genitalien sichtbar sind. Selbst die traditionellen Holzwiegen haben ein Loch in der Mitte, in der der „Saft“ abfließen kann. Aber die Höhe dieser für uns ungewöhnlichen Methoden, ist ein kleiner Holzstab, der einer Flöte oder Pfeife ähnelt. Dieser wird auf den Penis des Jungen gesetzt, damit der Urin gezielter abfliessen kann. Als Annabelle und ich alleine in einem Teehaus sitzen, kommen viele Kinder um mit Annabelle zu spielen. Sie sind unbeaufsichtigt und ihnen fällt so allerlei Mist ein. Einige Malen ihre Umgebung mit Wasserfarbe an, andere prügeln sich und wieder andere verteilen Müll auf der Straße. Annabelle ist amüsiert und schlürft den Tee zusammen mit dem frischgebackenen, knackigen Fladenbrot, welches wir gerade von einem uigurischen Bäckers gekauft haben. Dieses Fladenbrot wird zuerst mit einer Art Zwiebelsoße bestrichen und dann an die Innenseite seines Steinbackofens geklatscht. Der Teehausbesitzer und sein Freund fragen mich, ob ich dem Islam angehören würde und ließen mich sofort in Ruhe, als sie realisierten, dass ich verheiratet bin (wie bereits erwähnt, tragen wir seid Kasachstan wieder unsere Ringe, was Wunder bewirkt und selbst unsere unverheirateten Freunde haben sich welche auf ihrer Reise zugelegt). Der Tee wurde uns selbstverständlich geschenkt, da sie unsere Anwesenheit gefreut hat. Interessanterweise wurde uns erzählt, dass chinesische Kinder hier weniger selbstständig seien als bei uns. Das einige selbst mit drei Jahren noch nicht selbstständig essen können, weil sie von ihren Großeltern so verwöhnt und gepampert werden. Die Mütter und Väter selbst, haben oft kein Geld und somit keine Zeit ihre Kinder selbst aufzuziehen. Nach der Geburt bekommen die Mütter drei bis vier Wochen um sich zu erholen, von da an sind andere für die Erziehung des Nachwuchses zuständig. Man müsste also erst seine Eltern fragen ob sie Zeit und Lust haben, sich für die nächsten Jahre um ein Kind zu kümmern?! Außerdem ist es so, dass man sowohl die Heirat als auch ein Baby zuvor offiziell beantragen und erst auf die Erlaubnis warten muss. Wenn man zuvor schwanger wird, muss man ins Krankenhaus gehen und es sich „wegmachen“ lassen. Die Sache mit der Einkindpolitik ist inzwischen auch einiges komplizierter geworden. So können Minderheiten bis zu drei Kinder bekommen wohin gegen Han-Chinesen je nach Vorhandensein von eigenen Geschwistern entweder ein oder zwei Kinder bekommen dürfen. Lustigerweise sieht man daher viele Omis und Opis mit kleinen Kindern spielen. Am meisten hat es mir ein mächtiger, typisch muslimischer Großvater angetan, der seine Enkel liebevoll tröstete, viel Albereien machte und sie auf seinem Roller von Spielplatz zu Spielplatz kutschierte.
 









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